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40 - Raerener Straße/Kinkebahn, Lichtenbusch

Flucht und Fluchthilfe im Dreiländereck

Die Verfolgung politisch Andersdenkender und jüdischer Staatsbürger sowie aus ethnisch oder sozialen Gründen Verfolgter führte zu zahlreichen Flucht und Schmuggelaktivitäten an den Grenzen des Deutschen Reichs. Aachen als Grenzstadt und damit verbunden die grüne Grenze nach Belgien und den Niederlanden rückten in den Fokus für viele Menschen, die Deutschland nach 1933 verlassen mussten. Auch diente das nahe belgische und niederländische Ausland den Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftlern gerade in den Jahren bis 1940 als Basis für ihre Untergrundarbeit gegen das Regime im Inland.

Im Vergleich zu heute wurden damals die Grenzen wesentlich massiver kontrolliert. Kein Durchlass war ohne gültige Reisepapiere möglich. Scharfe Zollgesetze regelten den Devisen- und Warenverkehr. Die Grenzen trennten die Menschen und Kulturen. Warenschmuggel und illegaler Grenzverkehr waren seit vielen Jahren in Aachen ein bekanntes Phänomen. Die Untergrundorganisationen der verfolgten politischen Gruppierungen, Parteien und Gewerkschaften schmuggelten unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Informationsmaterial (bspw. die im Ausland gedruckte Parteizeitung der SPD („Vorwärts“) nach Deutschland. Sie brachten mit ortskundigen Genossen verfolgte Genossen ins zunächst sichere Ausland. Die Flucht der politisch Verfolgten fand insbesondere in den Jahren 1933 – 1935 statt und wurde von der breiten Bevölkerung noch wenig bemerkt.

Je mehr sich die Terrorherrschaft etablierte und je deutlicher die Repressalien gegen die verfolgten Bevölkerungsgruppen wurden, desto schwieriger wurde der Schmuggel. Der Andrang insbesondere jüdischer Menschen, die Deutschland via Aachen Richtung Westen zu verlassen suchten, wuchs stetig. Ziel waren die jüdischen Zentren Belgiens und der Niederlande, Brüssel, Antwerpen und Amsterdam. Die Grenzkontrollen wurden verschärft, um insbesondere den illegalen „Abfluss“ von Devisen und mitgenommenen Wertsachen zu verhindern. Die Rassengesetze von 1935 legten fest, dass Juden, die noch mit legalen Papieren Deutschland verlassen wollten, maximal 10 RM auf ihrem Weg mitnehmen durften. Nach dem Novemberpogrom 1938 bis zum Kriegsbeginn im Westen am 10. Mai 1940 suchten tausende Menschen aus dem ganzen Reich und Österreich den Weg über die Grenzen nach Belgien und den Niederlanden. Sie erfuhren teils uneigennützige Hilfe von ortskundigen Grenzländern, teils wurden sie von Schmugglern, die nun den Menschenschmuggel als lukratives Geschäft entdeckt hatten, über oder bis an die Grenze gebracht. Im Wald an der grünen Grenze spielten sich zahlreiche menschliche Tragödien ab. Die Flüchtenden wurden von deutschen Grenzbeamten und SS-Kontrollen aufgestöbert. Sie wurden ausgeraubt und dann mittellos entweder nach Belgien geschickt oder verhaftet zur Rückkehr ins Reich gezwungen. Willkür und aktueller politischer Druck des Auslands waren jeweils die ausschlaggebenden Motive, in welche Richtung die Flüchtlinge verbracht wurden. Wer nach Belgien geschickt wurde, war noch nicht im anderen Land angekommen. Denn auch auf belgischer Seite wurde streng kontrolliert. Die Diskussion in der Öffentlichkeit und die politische Bewertung in Belgien und den Niederlanden schwankte zwischen hoher Solidarität mit den Verfolgten, Opportunität und Zustimmung für die nationalsozialistischen Ziele. Damit war für viele Flüchtlinge der erste Kontakt mit belgischen Grenzgendarmen und mit der Bevölkerung ein Vabanquespiel. Offiziell hatte Belgien eine 15 km breite Sperrzone eingerichtet, hinter der angelangt sollte kein Flüchtlinge mehr nach Deutschland ausgewiesen werden. Je nach persönlicher Haltung der Gendarmen und der Bevölkerung unterstützten sie die Menschen, über diese Zone hinaus Richtung Brüssel zu gelangen, oder sie wiesen den Weg wieder Richtung Osten zurück an die grüne Grenze.

Zahlreiche zeitgenössische Berichte in der Eupener Tageszeitung „Das Grenzecho“ geben Zeugnis ab von den teils grausamen Geschehen an der Grenze. Nach 1940 verlagerte sich die Grenze nach Westen. Der Flüchtlingsstrom nimmt ab. Nun suchen vermehrt Kriegsgefangene und Deserteure den Weg durch den Grenzwald.

Auswahl einiger Artikel

30. November 1938, Mittwoch
"Eupen. Vorgestern nachmittag nahm die Gendarmerie in Gemmenich einen 43-jährigen deutschen Juden namens Z. aus Köln fest, der heimlich die deutsch-belgische Grenze überschritten hatte. Er wurde zwar an die Grenze zurückgeführt, aber wenige Stunden später erneut auf belgischem Gebiet ergriffen. Da er abermals ausgewiesen werden sollte, gab er an, daß er vor einiger Zeit in Brüssel einen Gelddiebstahl ausgeführt habe. Da seine Angaben darüber mit dem amtlichen Bericht übereinstimmten, wurde Z. dem Gericht in Verviers vorgeführt. Es besteht der nicht ganz zurückzuweisende Verdacht, daß Z. diese Selbstbeschuldigung nur vorgebracht hat, um vorläufig einmal in Belgien bleiben zu können. In Raeren trafen Gendarmen fünf Israeliten an, die vollkommen mittellos waren und deutscherseits einfach über die Grenze abgeschoben worden waren. Sie wurden wieder nach Deutschland zurückgeführt. Auch von anderen Stellen wird bestätigt, daß die deutschen Grenzbeamten mittellose Israeliten ohne weitere Umstände zur Grenze führen, wo sie selber sehen müssen, wie sie weiterkommen. So erklärt es sich auch, daß dieselben Personen öfters zwei- oder dreimal von den belgischen Gendarmen aufgegriffen werden, da sie immer abwechselnd hin und her geschoben werden."

2. Dezember 1938, Im Eupener Land
Eupen. Von der Grenze laufen Meldungen über Mitleid erregende Szenen ein, die sich bei der Zurückweisung der mittellosen jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland durch die hiesige Gendarmerie abspielen, die dabei der an sie ergangenen Weisung gehorcht. In der Nähe des Bahnhofs von Raeren fand eine Gendarmeriestreife einen 27jährigen jüdischen Flüchtling namens K. aus Berlin, der in völlig erschöpftem Zustande mit eiternden Kopfwunden bedeckt im Straßengraben lag und vorläufig bis zu seiner Besserung in das Sankt-Nikolaus-Hospital verbracht wurde. Die Wunden des K. waren nur nachlässig vernäht. Vor einigen Tagen hatte er einen Selbstmordversuch gemacht durch öffnen der Pulsadern, der aber mißlang. Die Nachricht einiger Blätter, daß K. früher Redakteur am Völkischen Beobachter in Berlin gewesen sei, ist natürlich unzutreffend. Andererseits trifft man immer wieder Fälle wahrer Menschlichkeit an. Wie uns heute morgen bekannt wurde, hat ein hiesiger Einwohner, der angeblich sogar Mitglied der heimattreuen Front ist, sich nach Deutschland begeben, um dort ein vierjähriges Kind mit sich zu nehmen und über Eupen weiter nach Brüssel zu Verwandten zu bringen, die sich dort des verlassenen Kindes annehmen, dessen Vater und Großvater sich in einem deutschen Konzentrationslager befinden. So ungern es der betreffende Einwohner hier vielleicht vermerken wird, daß seine edelmütige Handlungsweise seinen hiesigen Freunden von der heimattreuen Front bekannt wird, so können wir doch nicht umhin, seiner Menschlichkeit ein schönes Zeugnis auszustellen, die natürlich zu den politischen Grundsätzen der heimatreuen Front in krassem Widerspruch steht.

2. Dezember 1938
"Eupen. Wegen versuchten Devisenschmuggels aus Deutschland heraus wurde vorige Woche der hiesige Garageist in Aachen von der Polizei festgenommen. Sein Auto soll ebenfalls beschlagnahmt worden sein. Wie weiter verlautet, habe sich M. auch des unerlaubten Herausbringens von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland heraus schuldig gemacht. Der Verhaftete galt bei allen seinen Freunden als strammer Anhänger des Nationalsozialismus. Seine Freundschaft mit deutschen Zollwächtern an der Grenze ging sogar soweit, daß er sich zuweilen mit diesen scherzhaft herumbalgte. Trotzdem hat hier die allgemeine Einstellung der deutschen Zöllner am Schlagbaum bei Köpfchen wieder einmal Recht behalten, von denen einer kürzlich zu einem hiesigen altbelgischen Herrn, der beruflich häufig die Grenze überschreiten muß, geäußert hat: "Sie, mein Herr, sind Altbelgier, ich kenne Sie seit langem und weiß, daß Sie keine unerlaubten Dinge bei sich führen, trotzdem Sie mich mit 'Gutem Tag' begrüßen und nicht mit 'Heil Hitler'. Wir wissen aber sehr gut, daß es sehr angeraten ist, diejenigen Eupener, die so recht augenfällig und eifrig die Hand zum Gruße heben, von Zeit zu Zeit einmal in näheren Augenschein zu nehmen. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß gerade bei diesen, die laut mit 'Heil Hitler' grüßen, oft sehr überraschende Sachen zum Vorschein kommen, die sich sehr wenig mit der so offenkundig zur Schau getragenen Gesinnung vertragen.""

7. Dezember 1938
"Zwei jungen jüdischen Frauen von 21 und 22 Jahren, die aus Wien vertrieben wurden und nach Aachen gekommen waren, gelang es, sich zu Fuß durch die Grenzwachen durchzuschleichen und bis Verviers zu kommen. Sie wollten ihren Männern nachreisen, die sich seit einiger Zeit in Brüssel befinden. Eine der Frauen hat ihr kleines Kind bei sich. In Verviers wandten sie sich zunächst an das Mädchenheim, wo man ihnen den Rat erteilte, sich bei der Polizei zu melden. Dort wurden die Flüchtlinge einem Verhör unterzogen, da sie keine Pässe bei sich hatten und dann über Nacht beherbergt und beköstigt. Die Frauen hatten etwas Geld bei sich, außerdem war für sie bei einem in Verviers ansässigen Bekannten ein Scheck eingetroffen. Da sie über genügend eigene Mittel verfügten, wurden sie an den Bahnhof geleitet, wo sie den Zug nach Brüssel bestiegen, um dort von ihren Männern in Empfang genommen zu werden."

25. Januar 1939
"Eupen. Die Gendarmerie entdeckte bei Eynatten abermals sechs deutsche Juden, drei Männer und drei Frauen, die heimlich die Grenze überschritten hatten. Da die armen Leute keine vorschriftsmäßigen Papiere besaßen, mußten sie an die deutsche Grenze zurückgebracht werden."

31. März 1939
"Eupen. Etwa 50 Meter von der deutschen Grenze entfernt fand man die Leiche einer 1885 geborenen Berlinerin, die heimlich die Grenze überschritten hatte, und dann einem durch Anstrengung und Aufregung verursachten Herzschlage erlegen war."

1. Mai 1939
"Raeren. In der Nacht von Freitag auf Sonntag wurde eine Gruppe von acht jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland an der Grenze festgestellt. Fünf unter ihnen gelang es, im Walde zu entkommen, während die übrigen wieder an die Grenze zurückgeleitet wurden."

Dazu ein Artikel vom 22. November 1938:

"Nach umfangreichen Bemühungen gelang es Beamten der deutschen Zollaufsichtstellen Lichtenbusch, Oberforstbach und Aachen-Süd, einen Menschenschmuggler in dem Augenblick festzunehmen, als er Juden nachts über die Grenze nach Belgien zu führen versuchte. Auch konnten nach Absuchen des Geländes fünf Juden im Straßengraben versteckt gefunden und festgenommen werden.
Zwei weiteren Juden gelang es, über die nahe Grenze zu entkommen. Nach weiterem langwierigem Absuchen des Geländes in der Dunkelheit und bei dem starken Nebel wurde ein Gepäckschein gefunden, der von einem Juden weggeworfen worden war. Auf Grund dieses Gepäckscheines konnte im hiesigen Hauptbahnhof ein einem Juden gehöriger Koffer beschlagnahmt werden, der rund 1200 RM enthielt, die ins Ausland verschoben werden sollten. Koffer und Geld verfielen der Beschlagnahme."

Ergänzende Literatur:

Arntz, Hans-Dieter: Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Kreisgebiet Schleiden, Euskirchen, Monschau, Aachen und Eupen/Malmedy,
Euskirchen 1990.


Bremen, Christian: Retter und Gerettete. Solidarität mit jüdischen Menschen im westlichen Rheinland, in Belgien und den Niederlanden während der NS-Zeit, Aachen 2020.

Kirschgens, Stefan: Wege durch das Niemandsland. Dokumentation und Analyse der Hilfe für Flüchtlinge im deutsch-belgisch-niederländischen Grenzland in den Jahren 1933 bis 1945, Köln 1998.

van Rens, Hermann: Flüchtlinge aus Deutschland in der Grenzregion Limburg, in: Wege gegen das Vergessen. Zeitschrift der NS-Dokumentationsstätte, Ausgabe 1, Aachen
2023, S. 34 - 41.

  

 

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